Ein Euro Badekur-Investition spart bis zu sechs Euro Folgekosten

© DHV, GeVi (2), privat

Integrative Medizin: Potenzial der ambulanten Badekur

Eine neue Therme, sogar mit einem integrierten „Kurmittelhaus“: Bad Nauheim, hessisches Sole-Heilbad und Kneippkurort, setzt auf die Verbindung von ortsgebundenem Heilmittel und integrativmedizinischen Angeboten wie Trinkkur und Waldbaden im ersten hessischen Heilwald. Dafür macht sich vor Ort auch der Bade- und ganzheitliche Hausarzt Dr. Lutz Ehnert stark. Prof. André-Michael Beer, Beiratsmitglied der Initiative Gesunde Vielfalt und langjähriger Direktor der Klinik für Naturheilkunde an der Klinik Blankenstein (NRW), sieht darin eine Blaupause für andere deutsche Kurorte und Heilbäder. Denn angesichts von immer mehr ambulanten Behandlungen und der Frage, wer sich anschließend um Patientinnen und Patienten kümmert, tut sich hier eine Lücke auf.

Wenn seine Patienten über Müdigkeit klagen, Gelenk- und Rückenbeschwerden oder Stress, stellt Dr. Lutz Ehnert häufig kein Rezept aus. Er verordnet stattdessen, was schon die ersten Badeärzte in Bad Nauheim empfahlen: kürzere oder längere Runden im Waldpark oberhalb des hessischen Kurortes, wo das kleine Villenviertel zunächst an Streuobstwiesen grenzt. Hier gehen Ehnerts Patienten einfach nur zu Fuß, sie hören nichts als das Rauschen der Blätter im Wind, bewegen sich wieder mehr, atmen tiefer, entspannen sich im Grünen – und werden vitaler. „Das gehört zur Ordnungstherapie nach Kneipp“, sagt der Mediziner, der auch als hausärztlicher Internist mit Zusatzausbildungen in Naturheilverfahren und Kneipptherapie tätig ist. „80 Prozent der Menschen wünschen sich vor allem eine Behandlung mit Naturheilverfahren und nach Möglichkeit gehe ich darauf ein“, so Dr. Ehnert, „Integrative Medizin, also die Ergänzung der Schulmedizin durch komplementäre Therapieverfahren, vertrete ich zu 100 Prozent.“ Im Kurort mit seiner salz- und kohlensäurehaltigen Thermalsole als natürlichem, ortsgebundenen Heilmittel für Wannenbäder und fünf mineralstoffreichen Heilwässern für Trinkkuren sitzt er als Badearzt buchstäblich an der Quelle. Eigentlich.

„Badekur“ hat eine lange, erfolgreiche Geschichte

„Als ich mich 1996 hier niederließ, hatte ich von März bis November wöchentlich drei bis vier Badepatienten“, erinnert sich Dr. Ehnert. Also Menschen, die eine Badekur (ambulante Vorsorgeleistung) verschrieben bekommen hatten und mit Solewannenbädern ihr Rheuma, Kreislauferkrankungen oder Hautleiden kurieren wollten. Oder mit einer Trinkkur ihre Verdauung und den Stoffwechsel anregten. Ehnert verordnete individuell, wie lange und wie heiß das Wannenbad sein durfte, wie stark und konzentriert die Sole darin und welches der Bad Nauheimer Mineralwasser sie wie oft zu sich nehmen sollten. Dann kam 2000 die Gesundheitsreform. Bad Nauheim wurde alsbald vom Staats- zum Stadtbad, und Kuren für „Badepatienten“ wurden zur Kann-Leistung der Krankenkassen. Inzwischen ist die „Badekur“ wieder eine Muss-Leistung. Mit dem Nachteil, dass viele Anträge zunächst abgelehnt werden, berufstätige Interessenten drei Wochen Urlaub dafür nehmen und ihre Unterkunft vor Ort weitgehend selbst finanzieren müssen. Das schreckt viele ab. „Auch deshalb habe ich jetzt im gesamten Quartal etwa drei bis vier Badepatienten, meist Rentner und Selbstzahler“, so Dr. Ehnert, der trotzdem hoffnungsfroh in die Zukunft blickt.

Waldbaden und Waldtherapie: Bad Nauheim ist auch „erster hessischer Heilwald“

Denn Bad Nauheim, das nördlich von Frankfurt in der Wetterau liegt, hat einiges unternommen, um als „Gesundheitsstadt“ gestärkt aus der Krise und dem Strukturwandel im Gesundheitssystem hervorzugehen. Dazu gehörte im Dezember 2023 die Zertifizierung des denkmalgeschützten Waldparks als „erster hessischer Heilwald“ für Waldbaden und Waldtherapie. Von einst vier Kilometer langen, imposanten Gradierbauten, wo die Sole über Schwarzdorn fließt, in der Sonne auskristallisiert und vernebelt wird wie in der Meeresbrandung, sind noch 650 Meter erhalten – mit Liegewiese am Gradierbau I nur für Kurgäste. Im Gesundheitsgarten des Kurparks kann jeder Achtsamkeitsübungen praktizieren und an Kneippbecken Wassertreten oder sich mit einem kalten Armbad erfrischen, im Sommer auch unter Anleitung eines Experten vor Ort.

Neue Sprudelhoftherme mit Kurmittelbereich „Spa Nouveau“

Denn die ruhmreiche Geschichte allein reichte nicht: Die Ernennung 1869 zum Bad, nachdem an Weihnachten 1846 wundergleich der „große Sprudel“ aus der Erde emporgeschossen war. Der Ruf als Kurort von Weltrang, der um 1900 Adlige und Herrscher anlockte. Und die Tatsache, dass sogar „der King“ Elvis Presley hier von 1958 bis 1960 residierte, als er im nahen Friedberg als G.I. stationiert war. Die viele Jugendstilarchitektur, darunter die ehemaligen Badehäuser mit ihren verschwiegenen Innenhöfen, die inzwischen teilweise vor sich hinschlummerten. Dann schloss 2015 auch noch die Therme und wurde abgerissen. Für 70 Millionen Euro hat die Stadt inzwischen die neue „Sprudelhof Therme“ errichtet und im Dezember 2023 eröffnet. Ein Jahr später, im Dezember 2024, folgte die Eröffnung des ehemaligen, komplett sanierten Badehauses 2. Hier finden Gäste nicht nur eine großzügige Sauna- und Wellnesslandschaft in einzigartig historischem Jugendstil-Ambiente, sondern auch den als Physiotherapiepraxis anerkannten Kurmittelbereich „Spa Nouveau“. Hier können Sole-Wannenbäder und Kneippanwendungen vom Arm- bis zum Fußbad, vom Knie- bis zum Blitzguss, als Wellness gebucht, aber auch von Badeärzten wieder verschrieben werden. Zu den treibenden Kräften dahinter gehört auch Dr. Ehnert, Vorsitzender des Kneipp-Vereins in Bad Nauheim, Friedberg und Bad Salzhausen und Beiratsvorsitzender im Deutschen Kneippbund.

Integrative Medizin bringt frischen Wind nach Bad Nauheim

Die fünf Säulen der Kneipp-Therapie gelten als Grundlage der modernen Naturheilkunde mit Phytotherapie (Pflanzenheilkunde), Hydrotherapie (Wasseranwendungen wie Güsse, Wickel und Bäder), Ernährungs- und Bewegungstherapie sowie Ordnungstherapie mit Anregungen für eine gesunde Lebensweise. „Über die Integrative Medizin haben wir frischen Wind hier nach Bad Nauheim gebracht, denn mit dem neuen Kurmittelhaus können wir therapeutisch das örtliche Heilmittel mit der Kneipptherapie verbinden“, freut sich der Mediziner, der Kneippanwendungen schon aus seiner Kindheit kennt. „Dadurch haben wir vier junge Badeärzte neu gewonnen“, fügt Dr. Ehnert hinzu. Insgesamt hat Bad Nauheim zehn. Andernorts gibt es gar keinen Badearzt mehr direkt vor Ort, dieser kann jedoch aus einem Nachbarort angefordert werden. Geplant ist auch noch die Doppel-Zertifizierung zum Heilbad (ist Bad Nauheim schon) und Kneipp-Heilbad (bisher ist Bad Nauheim Kneipp-Kurort).

Hemmschwellen für Patienten auf dem Weg zur „Badekur“

Deutschland verfügt über insgesamt 350 anerkannte Kurorte und Heilbäder zwischen Nord- und Ostseeküste und dem Voralpenland. Nicht alle stehen so gut da wie Bad Nauheim. Ziel der Stadt ist es, möglichst gute Rahmenbedingungen für die 14 Reha-Kliniken zu schaffen, wie Steffen Schneider sagt, Leiter des Kur- und Servicebetriebs und damit quasi „Kurdirektor“: „80 Prozent unserer Übernachtungen entstehen durch die Reha-Kliniken, wohin Menschen stationär für eine Anschlussheilbehandlung nach einer Operation oder für ein Heilverfahren kommen.“ Die örtlichen Heilmittel werden von diesen bisher nur mäßig therapeutisch genutzt. Zu den verbleibenden 20 Prozent der rund 700.000 Übernachtungen im 34.000-Einwohner-Heilbad gehören viele „touristische“ in Ferienwohnungen, Pensionen und Hotels wie der Villa Grunewald. Dort wohnte Elvis einst, der Eingang ist immer wieder von einem Blumenmeer gesäumt. „Die Übernachtungszahlen für die ambulanten Vorsorgemaßnahmen, also die Badekur, sind leider sehr gering und liegen bei ein bis zwei Prozent“, so Schneider. Die Hemmschwellen – Urlaub nehmen müssen, Übernachtungskosten weitgehend selbst tragen – seien zu hoch: „Wir würden uns wünschen, dass es wieder mehr wird, aufgrund einer Renaissance der natürlichen Heilmittel und ganz konkret durch Verordnungen für Wannenbäder im Kurmittelbereich ,Spa Nouveau‘.“

Klassische Trinkkur als Teil integrativmedizinischer Verordnungen

Badearzt Ehnert und Steffen Schneider haben auch die klassische Trinkkur als Teil der Badekur wieder zurückgebracht. Gäste können die eisen-, natrium- und kalziumhaltige Wasser im Badehaus 2 zu sich nehmen oder am Quellenausschank in der sanierten, historischen Trinkkuranlage: „Das ist ein wunderschöner Raum mit drei Hähnen für verschiedene Brunnen“, schwärmt Schneider, „und die Kuppel darüber wurde originalgetreu wieder mit Tiffanyglas restauriert.“ Kneippen mit Güssen und Trinkkur, Atmen am Gradierwerk bei Lungenbeschwerden, sich bewegen im Heilwald, in Sole baden – die Integrative Medizin hat einiges vorzuweisen in Bad Nauheim. „All das wollen wir weiter stärken, damit sich Schulmedizin und Naturmedizin noch besser verbinden können“, betont Schneider. Dazu gehört für ihn auch die generelle „Aufenthaltsqualität“ im beschaulichen Bad Nauheim: „Kur ist ja auch die Verbindung von Körper und Geist, gerade angesichts von Zivilisationskrankheiten, die auch psychosomatisch begründet sind“, so Schneider: „Geht es dem Geist gut, geht es oft auch dem Körper gut.“

Ambulante Badekur hat sich schon als kosteneffizient erwiesen

Ein solcher integrativmedizinischer Ansatz kommt nicht nur der Gesundheit der Menschen zugute, sondern kann auch die Krankenkassen entlasten. „Vor einigen Jahren haben Studien aus Deutschland und Österreich ergeben, dass ein Euro Investition in eine dreiwöchige ambulante Badekur für einen chronisch Erkrankten bis zu sechs Euro Folgekosten einsparen soll“, sagt Brigitte Goertz-Meissner, Präsidentin des Deutschen Heilbäderverbandes. Können Kurorte womöglich generell eine Antwort auf drängende Fragen des Gesundheitswesens geben? Prof. André-Michael Beer, Beiratsmitglied der Initiative Gesunde Vielfalt, ist davon überzeugt. Der frühere langjährige ärztliche Direktor der Klinik für Naturheilkunde an der Klinik Blankenstein in Hattingen (NRW) engagiert sich seit Jahren im Deutschen Heilbäderverband als Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung. Damit kennt Prof. Beer sowohl den Bedarf an und die Wirksamkeit einer naturheilkundlichen, regenerativen Medizin sowie die gewachsenen Strukturen mit hohen Qualitätsstandards, die sich in ganz Deutschland finden lassen. Seine Vision: beide Seiten zusammenzubringen – Heilbäder und Kurorte und Integrative Medizin. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die im November 2024 verabschiedete Gesundheitsreform neben Klinikschließungen eine zunehmende Ambulantisierung vorsieht.

Zunehmende Ambulantisierung: „Kurorte sollten zu ,Kümmerern’ gehören“

„Schon jetzt werden etwa Brustkrebs-Patientinnen ambulant operiert und gehen noch am gleichen Tag nach Hause“, so der ganzheitliche Gynäkologe Prof. Beer: „Was aber ist mit den Leistungen und Beratungen, die bisher in der Klinik noch erbracht wurden?“ Dies müssten Patientinnen aktiv selbst einfordern und dazu binnen zwei Wochen in die Klinik zurückkehren. Meist komme es nicht dazu. Und das sei nur ein Beispiel. Gerade chronisch Kranke und Menschen mit einem Krebsleiden bräuchten Beratung und Unterstützung etwa durch Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen. Und er verweist auf den Ökonom Prof. Boris Augurzky, der den damaligen Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei seiner Klinikreform beriet: „Er spricht von ambulanten Zentren, die notwendig werden, wenn Kliniken schließen“, macht Prof. Beer auf diese Lücke aufmerksam. Zentren mit „Kümmerern“, wie Augurzky alle nicht-ärztlichen Fachrichtungen nennt, die dann nur noch ambulant tätig werden würden. „Zu diesen Kümmerern sollten die Kurorte unbedingt dazu gehören“, mahnt Prof. Beer, „sie verfügen schon über eine gute Infrastruktur, personell und fachlich.“ Allerdings müsste diese noch ausgebaut werden, um die ambulante Versorgung sicherzustellen. Kurorte sollten sich dazu mehr untereinander austauschen und womöglich gemeinsame Schwerpunkte bilden. Je nachdem, über welches ortsgebundene Heilmittel – Sole, Moor, Mineralwässer oder Heilklima – sie verfügen und wie sie dieses bereits mit anderen naturheilkundlichen Verfahren ergänzen oder in Zukunft ergänzen werden.

Hoher Bedarf an integrativmedizinischen Angeboten

„Der Bedarf an Komplementärmedizin ist enorm, um Nebenwirkungen der Therapie zu lindern und die Lebensqualität zu erhöhen“, betont Prof. Beer. Brustkrebspatientinnen etwa fragten sehr oft Verfahren nach wie Akupunktur, Phytotherapie, Entspannungsmethoden, Hinweise für eine gesündere Ernährung und Bewegung. Eine seiner eigenen Studien habe dies schon 2014 gezeigt. „Es darf daher nicht bei der rein leitliniengerechten, medizinischen Versorgung bleiben“, so der Experte, „die Ärzte müssen patientenorientiert arbeiten, individuell auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen und weitere ,Kümmerer‘ einbinden, wo erforderlich.“ Und er schlägt vor, die Badekur – bei gleichzeitiger Kostenübernahme – für bestimmte Zielgruppen zu erweitern: Brustkrebspatientinnen etwa und Menschen, die an Long Covid leiden. Zumal in den Kurorten, das habe er selbst erlebt, „sehr viel Empathie vorhanden ist bei Fachkräften im ambulanten Bereich. Und die ist zwingend notwendig, wenn Patienten und Patientinnen wieder zu sich finden sollen.“ Solch visionäre und doch so naheliegende Ideen müssten aber politisch gewollt und geregelt werden.

Die Natur als Therapeut – und auf Krankenschein: Dieses Miteinander scheitert manchmal auch noch an förderalen Grenzen. Wer seine Badekur in Bayern absolviert, auch wenn er dort nicht wohnt, kann damit rechnen, dass auch Waldbaden oder einfach nur Thermenbesuche erstattet werden. In hessischen Kurorten wie in Bad Nauheim ist dem hingegen nicht so. Damit hat ein in Bayern kurender Gast finanzielle Vorteile. Studien haben gezeigt, dass allein schon das „Baden“ im Wald, der Aufenthalt im Grünen mit Tannenduft-Aerosolen (Terpenen) und ohne Ablenkung durch das Smartphone, den Spiegel des Stresshormons Cortisol spürbar senkt. Und chronischer Stress gilt inzwischen als eine der größten Gefahren für körperliche und seelische Gesundheit. Badearzt Ehnert kennt eine Studie von Ende der 1990iger Jahre in Bad Wörishofen: „Nach drei Wochen ambulanter Badekur ist das Immunsystem so gestärkt, dass die gesundheitlichen Vorteile ein Jahr lang anhalten.“ Wer das ein oder andere zuhause in seinen Alltag integriert, hat noch länger etwas davon.

„Nach drei Wochen ambulanter Badekur ist das Immunsystem so gestärkt, dass die gesundheitlichen Vorteile ein Jahr lang anhalten.“

Dr. Lutz Ehnert, internistischer Hausarzt, Bade- und Kneipparzt mit Zusatzausbildung in Naturheilverfahren in Bad Nauheim

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