Prof. Dr. Harald Matthes schloss 1986 in seiner Heimatstadt Berlin das Studium der Medizin an der Freien Universität mit der Promotion ab. Nach Auslandsaufenthalten mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Stanford/USA und am heutigen Royal London Hospital for Integrated Medicine in London/UK machte er den Facharzt für Innere Medizin am Uni-Klinikum Benjamin Franklin (heute Charité), 1996 folgte die Zusatzbezeichnung Gastroenterologie. Schon ein Jahr zuvor wurde er zum Mitgründer, Ärztlichen Leiter und Geschäftsführer des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Diese Funktionen hat er bis heute inne. An der Charité in Berlin habilitierte er sich 2011, 2017 übernahm er dort die Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische Medizin. Er gehört dem Vorstand zahlreicher medizinischer Gremien an und ist Präsident der Deutschen Akademie für Integrative Medizin (DAfIM), die sich für die Fort- und Weiterbildung im Bereich komplementärer Heilverfahren einsetzt. (© Foto: Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe)
„Beiträge müssen nicht steigen, wenn wir sie in Patienten investieren!“

Krankenkassen überzeugt das integrative Medizinkonzept am Berliner Krankenhaus Havelhöhe
Gegen den Trend: Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin überrascht mit einem Zuwachs an Betten. Multimodale, integrativmedizinische Zusatztherapien an einer internistischen Tagesklinik haben sich bei Reizdarmsyndrom, Herzinsuffizienz, Asthma oder etwa chronischen Schmerzen als auffallend kostengünstig für die Krankenkassen erwiesen. Prof. Dr. Harald Matthes, Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer, über das Potenzial ambulanter komplementärmedizinischer Therapien, das Nord-Südgefälle hinsichtlich Integrativer Medizin in Deutschland und warum Patienten nachhaltig davon profitieren, wenn sie ihren ,inneren Schweinehund‘ überwinden.
Prof. Matthes, andere Kliniken schließen ganze Stationen. Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin haben Sie stattdessen binnen 30 Jahren die Zahl der Betten von 290 auf 450 erhöht. Wie machen Sie das?
Das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe ist ein anthroposophisches Akutkrankenhaus und akademisches Lehrkrankenhaus der Charité. Seit 1995 verbinden wir hier modernste konventionelle Medizin mit einem ganzheitlichen Menschenbild und Therapieansatz zu Integrativer Medizin. Wir konnten von Beginn an zeigen, dass wir vor allem auch mit unseren komplementärmedizinischen Zusatztherapien langfristig nachhaltiger und kosteneffizienter behandeln als rein schulmedizinische Kliniken. Das haben auch die Krankenkassen erkannt und uns unterstützt.
Die Krankenkassen sind sogar auf die Havelhöhe zugekommen, um Ihnen ein Aufstocken der Bettenzahl vorzuschlagen.
Die Krankenkassen haben uns aufgrund guter Ergebnisse etwa vorgeschlagen, die Zahl der stationären Betten für chronische Schmerzpatienten von zwölf auf 24 zu erhöhen. Weil die früheren stationären Liegezeiten verkürzt wurden und die Abrechnungsziffer dafür weggefallen ist, bieten wir unsere Zusatztherapien inzwischen vor allem aber auch ambulant in der Tagesklinik an. Allein im Jahr 2024 haben wir mit einer Tagesklinik für Innere Medizin weitere 24 Betten dazu bekommen. Tagesklinische Betten gibt es normalerweise nur in der Psychosomatik, in der Psychiatrie oder der Geriatrie. Die Kassen haben aber auch anhand einer unserer Studien gesehen, wie effektiv etwa unsere tagesklinische multimodale Therapie beim Reizdarmsyndrom für die Patienten ist und dabei eben auch kosteneffizient.
Wie äußert sich die Kosteneffizienz?
Als Krankenhaus bekommen wir unsere integrativmedizinischen Therapien als Pauschale kostendeckend vergütet. In unserer Studie haben wir zudem gezeigt, dass die Wirkung noch ein Jahr später anhält. Das ist ungewöhnlich, weil die meisten anderen Therapien nach drei bis sechs Monaten wieder auf dem Ausgangswert sind. Bei den chemisch-synthetischen Medikamenten wie trizyklischen Antidepressiva ist der Zeitraum noch viel kürzer. Nach dem Absetzen ist es meistens nur vier bis sechs Wochen besser, dann verstärken sich die Beschwerden wieder. Das führt zu einem Drehtüreffekt: Reizdarmpatienten gehen öfter zum Arzt, weil herkömmliche Therapie ihnen nicht langfristig helfen. Zudem haben sie beruflich viele Fehltage, all das ist für das Gesundheitssystem sehr kostspielig.
Welche Selbsthilfestrategien vermitteln Sie in der multimodalen Therapie?
Uns ist es wichtig, dass die Patienten aktiv an ihrer Gesundung mitwirken und Verantwortung dafür übernehmen können. Zum anthroposophischen Zusatzangebot gehören nicht nur psychotherapeutische Gespräche, Phytotherapeutika, anthroposophische Arzneimittel sowie Kunst-, Mal-, Musik- und etwa Gartentherapie. Es geht dabei auch um Änderungen des Lebensstils hinsichtlich Ernährung, Bewegung, Stressabbau. In unserer Ambulanz und in der Tagesklinik verordnen die Therapeuten inzwischen Übungen auf Rezept. Früher fragten Patienten immer direkt nach einem Rezept für Medikamente oder Physiotherapie, nun sollen sie erst einmal selbst aktiv werden und die Übungen machen, die sie bei uns gelernt haben. Dazu gehört auch, den inneren Schweinehund immer wieder zu überwinden und kontinuierlich selbst aktiv an einer Lebensstilveränderung zu arbeiten.
Wird das integrativmedizinische multimodale Therapiekonzept von den Krankenkassen nur für Reizdarmpatienten erstattet?
Nein, das gilt seit Februar 2025 auch für chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Endometriose, chronische Schmerzen, Asthma, COPD (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) und Krebsleiden. Außerdem für Herzinsuffizienz (Herzschwäche). Diese Erkrankung ist besonders in unserem Fokus, da die Bevölkerung immer älter wird. Bewegung, individuell ausgewählt, kann hier viel bewirken. Die meisten Patienten, die in deutschen Kliniken stationär aufgenommen werden, haben diese Diagnose; die Erkrankung gehört zu den häufigsten Todesursachen. Bis Februar 2028 begleiten wir die zwölfwöchige, multimodale Behandlung der Patienten in der Tagesklinik Innere Medizin mit einer Registerstudie. Da wir aber in der Vergangenheit die genannten Erkrankungen schon stationär mit unserem multimodalen Konzept erfolgreich behandelt haben, sind die Krankenkassen zuversichtlich, dass dies auch für den teilstationären Bereich gilt, und übernehmen die Kosten schon jetzt. Interessierte Patienten können sich direkt an der Tagesklinik Innere Medizin anmelden.
Inwiefern lassen sich die Kosten für oft teure, chemisch-synthetische Arzneimittel durch Selbsthilfestrategien senken?
In hohem Maße. Viele Selbsthilfestrategien sind deutlich effizienter und kostengünstiger als herkömmliche chemisch-synthetische Arzneimittel in der Dauertherapie, bei geringeren Nebenwirkungen. Wir haben inzwischen eine gewaltige Steigerung bei den Arzneimittelkosten, ohne dass die Effizienz durch diese Medikamente im gleichen Umfang zu deren Kosten gestiegen wäre. Noch vor zehn Jahren haben wir etwa 24 Milliarden Euro für Arzneimitteltherapie in Deutschland ausgegeben, inzwischen sind es mehr als 50 Milliarden Euro im Jahr. Ein besonders prägnantes Beispiel sind Cholesterinsenker, also Statine. Hohe LDL-Cholesterinwerte gelten als wesentliche Ursache für Herzkranzaderverengung. Cholesterinsenker sind das am häufigsten verordnete und weltweit den größten Umsatz machende Arzneimittel, aber die Effizienz („NNT/Nummer needed to treat“) liegt nur bei 1:164 Das bedeutet: 164 Menschen müssen im Schnitt damit behandelt werden, damit es einem tatsächlich hilft und er keinen Herzinfarkt im Folgejahr erleidet. Ältere Menschen bekommen zudem im Schnitt mehr als 15 konventionelle Medikamente, bei denen man genau weiß, dass deren gemeinsame Verabreichung wegen der Interaktionen häufig keinen Sinn macht. Wenn man ehrlich ist, sollen in der konventionellen Medizin 90 Prozent der Probleme mit einem Arzneimittel gelöst werden und nicht damit, dass ich jemand zum Osteopathen schicke oder zu einer mehrwöchigen, multimodalen Therapie, das gilt nach wie vor noch als ein ,bisschen komisch‘. Nicht-medikamentöse Therapien aber sollten genauso wie ein Medikament auf Kassenkosten verordnet werden können.
Lässt sich nachweisen, dass multimodale Therapien etwa auch bei hohen LDL-Werten hilfreich sind?
Studien haben längst gezeigt, dass multimodale Therapien etwa auch bei Herzinsuffizienz oder hohen LDL-Werten hilfreich sind. Als Pionier gilt hier der amerikanische Mediziner Dean Ornish: Er ist gewissermaßen der Begründer der wissenschaftlichen multimodalen Therapiekonzepte außerhalb von chronischem Schmerz. Mit seinen Lebensstilmodifikationen hat er bei Herzpatienten eine Number Needed to Treat von 1:12 erreicht; erlernen die Patienten zusätzlich Empathie und achtsames Zuhören, werden sie also ,weicher‘, beträgt die die NNT sogar 1:8.
Ließen sich so auch die allgemein hohen Kosten im Gesundheitwesen reduzieren und Beitragssteigerungen vermeiden?
14 Prozent des Bruttosozialprodukts für Krankenkassenbeiträge würden ausreichen, wenn man sie wirklich in die Patienten, ihre Gesundung und Gesunderhaltung investiert: etwa in Anregungen zur Lebensstiländerung, wenn Menschen schon chronisch erkrankt sind. Mit einem Krankenhaus sollten zudem keine Kapitalerträge erwirtschaftet werden. Die Havelhöhe etwa ist ein gemeinnütziges Krankenhaus. Das Geld, das hier verdient wird, muss in die Gesundheit der Menschen reinvestiert werden.
Anthroposophische Medizin ergänzt die konventionelle Medizin um einen ganzheitlichen Ansatz. Plädieren Sie dafür, dass Medizin immer integrativ sein, also konventionelle und komplementäre Medizin verbinden sollte?
Auf jeden Fall. Wir müssen weg von einer reparierenden Medizin. Integrative Medizin steht sogar im aktuellen Koalitionsvertrag als wichtige Präventionsmedizin: Vermitteln wir Patienten, was sie selbst aktiv tun können, um nach einer Erkrankung gesund zu werden oder zumindest ihre Lebensqualität zu verbessern, fällt das als ,tertiäre Prävention‘ auch in diesen Bereich. Von daher kann ich nur hoffen, dass wir künftig immer mehr patientenzentrierte Medizin machen und uns fragen: ,Was nutzt den Patienten wirklich?‘ Und egal, ob ein Verfahren aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) kommt, aus der Mind-Body-Medizin oder aus der Naturheilkunde, wenn es effektiv ist, sollte es auch in den medizinischen Behandlungsleitlinien abgebildet und auch von den Krankenkassen übernommen werden. Bisher ist die Realität eine andere. Die Standardtherapie bei Beschwerden der Lendenwirbelsäule etwa ist orthopädisch mit Cortison und Schmerzmitteln, obwohl eine große Studie mit mehr als 110.000 Patienten gezeigt hat, dass Akupunktur effektiver ist. Sogar die Scheinakupunktur war noch wirkungsvoller als die konventionelle Medizin. Trotzdem steht in den Leitlinien nur, ,Akupunktur kann auch genutzt werden‘, aber nicht sollte oder soll.
Wenn Sie mit Politikern sprechen, wie offen sind diese für Integrative Medizin?
Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle. In Bayern und Baden-Württemberg bewegt sich viel. In Baden-Württemberg besteht sogar ein eigenes Netzwerk mit Universitätskliniken zur Forschung und Anwendung von Integrativer Therapie. In Bayern gibt es auch entsprechende Kliniken und neue Lehrstühle für Integrative Medizin, etwa in Augsburg, Würzburg und Erlangen. So ist der Stand in Deutschland. China hingegen will die TCM aktiv weltweit vermarkten und das ist mit der Ayurvedischen Medizin, die aus Indien kommt, nicht anders. Aber dahinter steht in diesen Ländern eine völlig andere politische Einstellung: Überzeugt davon zu sein, dass die Welt von diesen Medizinsystemen profitieren kann. In Europa sagt man stattdessen: ,Unsere holistischen Systeme, die Anthroposophische Medizin, die Homöopathie, die Naturheilverfahren nach Kneipp, das ist doch alles unwissenschaftlich.‘ Dabei stimmt das nicht mal. Wir sind in Deutschland unglaublich reich an verschiedenen integrativmedizinischen Systemen, die aber politisch kaum gefördert werden. Sie werden auch nicht verstanden. Dazu müsste man sich damit beschäftigen, denn gerade, weil wir daran so reich sind, braucht das auch die entsprechende Unterstützung gerade der Politik. Denn Integrative Medizin ist patientenzentriert und spart dabei noch Kosten – das müsste Systemanreiz genug sein.
14 Prozent des Bruttosozialprodukts für Krankenkassenbeiträge würden ausreichen, wenn man sie wirklich in die Patienten, ihre Gesundung und Gesunderhaltung investiert.
Prof. Dr. Harald Matthes, Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin
VITA MdL Manne Lucha
