„Für mehr Rechts- und Patientensicherheit: Osteopathie berufsgesetzlich regeln!”

© Fuhrmann

Vor über 140 Jahren entwickelte der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still (1828-1917) die Prinzipien der Osteopathie und begründete damit eine neue Therapierichtung. Seitdem wird die Osteopathie stetig weiterentwickelt. Prof. Marina Fuhrmann ist staatlich anerkannte Osteopathin, Heilpraktikerin und Erste Vorsitzende des Verbandes der Osteopathen Deutschland (VOD). Im Gespräch mit „Gesunde Vielfalt“ liefert sie Einblicke in diese manuelle Therapieform, ihre interdisziplinäre Anwendung und bekräftigt ihre Forderung auf Anerkennung der Osteopathie im Rahmen eines Berufsgesetzes.

1. Frau Prof. Fuhrmann, was hat Sie zur Ausbildung als Osteopathin bewogen?

Prof. Marina Fuhrmann: Ich habe sehr früh, schon während meines Anerkennungsjahres als Physiotherapeutin, viele Fortbildungen besucht, schwerpunktmäßig im Bereich der Manuellen Behandlungsmethoden aber auch der Traditionellen Chinesischen Medizin. Ich wollte verstehen, was die Ursachen der Beschwerden meiner Patienten sind. Ich wollte nicht nur Symptome behandeln, sondern ich wollte verstehen, warum ich bei einigen Patienten mit gleicher Symptomatik mit meiner Behandlung Erfolg hatte und bei anderen nicht. Immer wieder wurde ich in der damaligen „Fortbildungsszene“ mit dem Begriff Osteopathie konfrontiert. So habe ich recherchiert und bin Anfang der 1980-er Jahre zur British School of Osteopathy (BSO) nach London gefahren. Mich faszinierte schon damals der Ansatz der Osteopathie, den ich dort vermittelt bekommen habe. Wenn die Ausbildung dort nicht so teuer gewesen wäre, hätte ich sofort damit angefangen. Als Anfang der 1990-er Jahre vor allem belgische und französische Osteopathieschulen in Deutschland eine fünfjährige Ausbildung anboten, war ich gleich beim ersten Kurs dabei. Seitdem bin ich der Osteopathie verschrieben, fasziniert von den Zusammenhängen innerhalb des menschlichen Körpers. Mich begeistert die Fähigkeit eines jeden Organismus, sich selbst zu regulieren und mich motiviert das Selbstverständnis des Osteopathen als Behandler.

2. Können Sie uns Denkweise und praktischen Ansatz der Osteopathie erläutern?

Prof. Marina Fuhrmann: Osteopathie beruht auf der Annahme, dass der Körper eine Einheit bildet, in der Struktur und Funktion in einer engen, wechselseitigen Beziehung stehen. Dabei hat der Körper die Fähigkeit zur Selbstregulierung. Dieser Selbstregulierungsmechanismus funktioniert ungehindert, solange der Körper sein Gewebe, die Gelenke, Muskeln, Nerven und Knochen gut auszubalancieren vermag. Osteopathen sorgen dafür, Mobilität zu schaffen, Blockaden zu lösen und eine freie Zirkulation zu ermöglichen, damit diese Versorgung gewährleistet ist.

3. Osteopathen nehmen sich für die Erstanamnese viel Zeit. Sie müssen das Zusammenspiel der von Ihnen beschriebenen Komponenten wahrnehmen und zuordnen. Inwiefern spielt dieser Zuwendungs-Aspekt auch für den Genesungsprozess eine Rolle?

Prof. Marina Fuhrmann: Wir machen tatsächlich zunächst eine gründliche Anamnese, bei der wir auch schulmedizinisch festgestellte Befunde berücksichtigen. Es ist wichtig, die Krankengeschichte der Patienten – Unfälle, Operationen – zu kennen und zu wissen, welche Medikamente sie nehmen. Die typische osteopathische Untersuchung erfolgt dann ausschließlich mit den Händen. Dabei versuchen wir, den Körper zu „screenen“ und die Befunde in den Kontext der Beschwerden des Patienten zu setzen. Selbstverständlich fühlen sich Patienten dadurch auch „gesehen“ und ernst genommen.

4. Das Screenen des Körpers bzw. das sogenannte Palpieren bildet also die Basis der osteopathischen Herangehensweise. Wie kann es die klinisch-medizinische Diagnostik ergänzen?

Prof. Marina Fuhrmann: Die menschliche Hand ist in der Lage, ganz feine Bewegungsunterschiede oder auch sogenannte Spannungszustände und Veränderungen im Körper zu spüren. Die Gewebe haben teilweise eine Dicke von unter einem Millimeter. Mit dem erlernten Palpationsvermögen kann der Therapeut Spannungs- und Temperaturveränderungen sensibel aufspüren, interpretieren und aus der osteopathischen Diagnostik eine eigene, auf den Patienten zugeschnittene „Be-Handlung“ entwickeln. Um das leisten zu können, muss der Osteopath eine lange sorgfältige Ausbildung durchlaufen. Die Frage dabei ist: Welche Blockaden bzw. körperliche Dysfunktionen kann ich mit den genannten Beschwerden erklären? Wie lassen sich unsere osteopathischen Befunde interpretieren? Insgesamt ist die osteopathische Diagnose eine Art Detektivarbeit, die alle anatomischen und physiologischen Prozesse des Körpers berücksichtigt.

5. In der Integrativen Medizin stützt man sich auf Synergieeffekte, lässt sich die Osteopathie ebenfalls interdisziplinär einsetzen?

Prof. Marina Fuhrmann: Unter dem Begriff Integrative Medizin subsummieren sich komplementäre Medizin und klassische Medizinformen. Daher können sich beide, zugeschnitten auf den individuellen Patienten, ergänzen. Schon Andrew Taylor Still kombinierte die Osteopathie mit anderen Teilbereichen der Medizin, etwa der sogenannten Schulmedizin oder auch naturheilkundlichen Maßnahmen.

6. Was kann die Osteopathie zur Prävention von Erkrankungen beitragen?

Prof. Marina Fuhrmann: Die Osteopathie hat einen großen präventiven Charakter: Dadurch, dass sie alle Gewebe, Organe, Muskeln, Faszien und Blutgefäße nach deren freier Beweglichkeit untersucht und behandelt, kann sie funktionellen Störungen und Krankheiten vorbeugen. Gezielte manuelle Herangehensweisen können Blockaden und Verspannungen lösen. Die bessere Beweglichkeit unterstützt den Körper in seiner Widerstandsfähigkeit gegen Verletzungen und Überlastungen.
Auch kann Osteopathie das Immunsystems stärken: Durchblutung und Lymphfluss können verbessert, körpereigene Abwehrzellen besser verteilt und aktiviert werden – der Körper wird widerstandsfähiger gegen Krankheitserreger.

Zudem kann die Osteopathie in Sachen Entspannung und Stressbewältigung gute Dienste leisten, da sie regulierend auf das vegetative Nervensystem wirkt, wodurch Organe und deren Funktionen positiv beeinflusst werden.

7. Bewährt hat sich die Osteopathie auch in der Verletzungsprävention. Sie wird von vielen Freizeit- und Spitzensportlern in Anspruch genommen. Wie funktioniert das?

Prof. Marina Fuhrmann: Im besten Fall erkennen wir Dysfunktionen und Kompensationen, bevor ein Sportler Beschwerden hat und seine Leistung eingeschränkt ist. Ein einfaches Beispiel: Jemand hat öfter leichte muskuläre Probleme im Training. Das sollte zunächst aus ärztlicher Sicht diagnostisch betrachtet werden. Und wenn sich kein struktureller Schaden findet, kommt der osteopathische Check inklusive Behandlung dazu. Oft findet man Probleme abseits vom betroffenen Muskel, wie Blockaden in Iliosakralgelenk, im Rücken oder benachbarten Gelenken, sowie im Knie oder Fuß. Zudem kann es auch Probleme zwischen Muskeln und Organen geben wie beispielsweise eine Verklebung der Faszien des Muskulus Ileopsoas (Lenden-Darmbeinmuskels) und der Niere. In der Osteopathie bezeichnet man diese Zusammenhänge als Ursache-Folgeketten und behandelt entsprechend.

8. Wo stößt die Osteopathie an ihre Grenzen?

Prof. Marina Fuhrmann: Die Osteopathie hat ihre Grenzen dort, wo die Selbstregulierungskräfte des Körpers nicht mehr ausreichen. Bei Tumorerkrankungen, Unfällen sowie bei akuten und schweren Erkrankungen kann sie die Schulmedizin mit ihren medikamentösen und operativen Behandlungen nicht ersetzen, jedoch flankierend die Lebensqualität unterstützen. Qualifizierte Osteopathen wissen um diese Abgrenzungen und raten in solchen Fällen immer zum Arztbesuch.

9. Apropos Qualifikation: Was ist das konkrete Ziel des VOD?

Prof. Marina Fuhrmann: Das größte Ziel des Verbandes der Osteopathen Deutschland (VOD) ist nach wie vor die Berufsanerkennung mit einem bundeseinheitlichen Berufsgesetz, das Ausbildung und Ausübung der Osteopathie regelt. Denn in Deutschland ist die Situation derzeit unübersichtlich: Osteopathie darf nur von Ärzten und Heilpraktikern (HP) rechtssicher praktiziert werden. Es gibt keine klar definierte osteopathische Qualifikation, und die Heilpraktiker-Erlaubnis gewährleistet keine Qualifikation des Osteopathen. Auch Bachelor- und Masterabsolventen im Studienfach Osteopathie dürfen derzeit trotz akademischen Abschlusses nur mit einer Heilpraktiker-Erlaubnis (ab einem Alter von 25 Jahren) tätig werden. Mit einem Berufsgesetz wollen wir die Situation ändern. Für Patienten muss es klar ersichtlich werden, über welche Qualifikation ihr Osteopath verfügt. Nur ein Berufsgesetz bietet die Garantie einheitlicher Standards, um die notwendige, hohe Qualität der Osteopathie überprüfbar gewährleisten zu können; nur ein Berufsgesetz schafft Transparenz und Rechtssicherheit für Patienten und Osteopathen. Die berufsgesetzliche Regelung soll in Anlehnung an internationale und WHO-Standards einen Mindestumfang der Ausbildung, die Legalisierung der Berufsbezeichnung und eine berufsqualifizierende Prüfung umfassen.

10. Wie ist der aktuelle Stand der berufsgesetzlichen Regelung?

Prof. Marina Fuhrmann: Nach dem einstimmigen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz am 5. und 6. Juni 2019, der Bund möge für den notwendigen Patientenschutz ein Berufsgesetz prüfen, sind wir überzeugt, dass die Politik das Risiko für viele Millionen Patienten und die Notwendigkeit der Regelung erkannt hat.
Wir mahnen mit Nachdruck die Umsetzung an, damit Patientinnen und Patienten sicher sein können, dass dort, wo Osteopathie draufsteht, auch Osteopathie drin ist. Im Interesse von Millionen von Patienten und einer bestmöglichen integrativen Gesundheitsversorgung werden wir hier nicht lockerlassen. Das ist auch im Sinne der Kolleginnen und Kollegen anderer Gesundheitsberufe und Ärzte, die klar wissen, welche Qualifikation der Osteopathie zugrunde liegt.

11. Welche Rolle spielt Ihr Verband bei der Qualitätssicherung?

Prof. Marina Fuhrmann: Solange es keine bundesweit einheitliche Regelung gibt, fungiert der VOD als Qualitätsgarant. Nur nach einer Ausbildung von mindestens vier Jahren und regelmäßigen Fortbildungen dürfen Mitglieder auf unserer Therapeutenliste geführt werden.

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