„Integrative Medizin: Die Kombi macht den Unterschied“  

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Dr. Stephan Kühne, Sprecher der Initiative „Gesunde Vielfalt“, im Interview

Herr Dr. Kühne, was hat Sie dazu bewogen, sich als Sprecher der Initiative “Gesunde Vielfalt” zu engagieren?

Mein Interesse an Verknüpfung und Verzahnung verschiedener Therapie-Ansätze ist sehr groß. Das kommt daher, dass ich mich schon lange im Bereich der Suchtmedizin engagiere und dort immer wieder sehe, dass man patientenfokussiert denken sollte. So kann hier zum Beispiel die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten mit Psychologinnen und Psychologen oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gut helfen. Da zeigt sich, dass eine Behandlung und Therapie, die gelingen soll, oftmals viele Facetten hat.
Zudem habe ich lange im Bereich der Krebsmedizin gearbeitet, in der es vielfach darum geht, die Gesamtkonstitution des Patienten, der Patientin zu verbessern. Das kann zum Beispiel über Gesprächstherapien geschehen. So hat die Psychoonkologie in den letzten Jahren immens an Bedeutung gewonnen.
Warum soll es also in anderen Fällen nicht etwa Akupunktur, Osteopathie, ein anthroposophisches, homöopathisches Arzneimittel oder ein Phytopharmakon sein, das zu einer erfolgreichen Therapie führt? Im normalen Medizinbetrieb bleibt die individuelle Gesundheitssituation bei der Wahl der Behandlung oftmals unberücksichtigt. Das gilt vielfach auch für die Wünsche des Patienten. Letztendlich muss es doch auch darum gehen, dass der oder die Betroffene sich mit der Behandlung wohl und wahrgenommen fühlt. Und je wohler er oder sie sich fühlt, je genauer die Therapie zum jeweiligen Menschen passt, desto größer ist die Chance auf dessen Genesung.
Aus all diesen Gründen finde ich den Ansatz der Integrativen Medizin so wichtig und zukunftsweisend.

Sie sind Biologe, spielt Ihr akademischer Hintergrund für das neue Aufgabenfeld eine Rolle?

Bei meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich gelernt, dass wir es bei Lebewesen immer mit Individuen zu tun haben. Man kann zwar sagen: Zwei sind von der gleichen Art. Dennoch sind sie nie identisch. Auch in der Medizin geht es immer um Individuen. Natürlich gibt es statistische Werte. Allerdings kann kein Arzt sagen, weshalb eine Therapie zwar bei den meisten, aber eben nicht bei dem einen Patienten funktioniert. Für diejenigen, die nicht zu den meisten gehören, sollte es die medizinische Möglichkeit geben, dann auch andere Ansätze verwenden zu können.

Wozu braucht es Ihrer Meinung nach eine Integrative Medizin? Was kann die klassische Medizin alleine nicht leisten, wo sehen Sie Lücken?

So segensreich die moderne Medizin zweifelsohne ist: Bei bestimmten Themen stoßen konventionelle Verfahren an Grenzen, etwa bei verschiedenen chronischen Krankheiten und zahlreichen lebensstilbedingten Erkrankungen.
Es wäre meines Erachtens gerade hier verhängnisvoll, auf die Erfahrung, das langjährig angewandte Gesundheitswissen zu verzichten. Ebenfalls wäre es bedauerlich, wenn wir den ganzheitlichen Ansatz, der vielen Komplementärverfahren zu eigen sind, vernachlässigen würden. Wir brauchen eine Integrative Medizin, die beide Ansätze vereint, um Patientinnen und Patienten individuell optimal versorgen zu können.

Gegen Integrative Medizin gibt es Vorbehalte: Sie sei nicht evidenzbasiert, es gäbe für die Anwendung keine wissenschaftliche Begründung. Was können Sie dem entgegensetzen?

Eine evidenzbasierte, konventionelle medizinische Behandlung ist kein Garant für einen Heilungserfolg – das zeigt sich vor allem bei den vielen Patientinnen und Patienten, die aus Sicht der konventionellen Medizin als austherapiert gelten. Und: wer maßt sich an, zu beurteilen, was für den Einzelnen richtig und was falsch ist? Vielleicht gibt es eine Patientin, die spürt, dass für sie eine Therapie nicht passt oder diese allein noch nicht ausreicht. Warum sollte man ihr einen Therapieweg vorenthalten, der ihr vielleicht helfen kann?
Klinische Studien bilden eine Art Laborsituation ab, die mit der Praxis vielfach nichts zu tun hat. Denn dem Behandelnden begegnen Individuen mit einer ganz persönlichen Krankheitssituation und -geschichte, mit eigenen Präferenzen und individuellen Besonderheiten. Viele Patienten sind chronisch oder psychosomatisch erkrankt, werden mit komplexen gesundheitlichen Herausforderungen vorstellig.
Natürlich brauchen wir Forschung und Evidenz, ohne Zweifel – daher setzt sich unsere Initiative auch für mehr Förderung der Forschung zu Integrativer Medizin ein. Zu bestimmten Themen und Therapieformen gibt es auch schon respektable Studien. Besonders wichtig sind in Zukunft Studien, die das Zusammenspiel von Therapieansätzen im Sinne der Integrativen Medizin untersuchen.
Unzählige medizinische Fortschritte sind aus der Praxis heraus entwickelt worden und nicht aus der Studientheorie. Der Erfahrungsschatz zu Komplementärverfahren ist groß. Es wäre deshalb widersinnig zu sagen „Es gibt noch nicht genug Studien und deswegen darf man diese Verfahren nicht anwenden“. Dann gäbe es auch keine Gelder für weitere Forschung dazu. Das wäre eine Vorgehensweise, die der Gesundheitsversorgung und damit auch den Patienten eher schaden würde.

Das deutsche Gesundheitssystem verzeichnet aktuell ein Milliardenloch. Ist es angesichts dessen die richtige Zeit für Integrative Medizin? Sie erfordert schließlich mehr Aufwand aller Beteiligten. Rechnet sich das?

Zahlreiche sozioökonomische Untersuchungen von Krankenkassen, aber auch Kohortenstudien aus dem Praxisalltag zeigen, dass komplementäre Verfahren nicht teurer sind, sondern sogar Kosten einsparen können. Bei gleichzeitiger Reduktion von schulmedizinischen Arzneimitteln, die zum Teil nicht unerhebliche Nebenwirkungen haben.
Unabhängig davon glaube ich, dass wir gut beraten wären, wenn wir nicht immer nur die primären Kosten sehen würden. Sondern gezielt schauen würden, wie man Menschen langfristiger und nachhaltiger gesünder machen kann. Damit könnten auch die indirekten Kosten, also die Folgekosten für die Gesamtgesellschaft und das Gesundheitssystem, gesenkt werden.
Kurzum: Wir brauchen unterstützende Ansätze, mehr Dialog – und mehr Forschung. Wird das vernachlässigt, werden die Folgekosten für die Gesellschaft immer höher.
Wir täten gut daran, die Patientin, den Patienten stärker in den Fokus zu rücken. Der Dialog zwischen Arzt und Patienten hat an Wertigkeit verloren, das muss sich ändern. Die Anamnese kommt zunehmend zu kurz. Die Schulmedizin lehrt diese zwar, leistet sie aber in der Realität kaum, da sie nicht bezahlt wird.
Wir setzen uns daher für eine Integrative Medizin ein, in der Behandler und Patienten miteinander kooperieren, statt sich gegenseitig als Kostenfaktoren zu verstehen. Und ja, wir sind auch sicher, dass sich das rechnet. Weil nur eine Medizin, die die Menschen in ihrer Selbstverantwortung, Individualität und ihren Wünschen ernst nimmt, überhaupt wirksam sein kann. Und damit auf Dauer auch finanzierbar ist.

Welche Hürden hat die Umsetzung der Integrativen Medizin aus Ihrer Sicht zu nehmen?

Wichtig ist erstmal, dass komplementäre Verfahren als bereichernde Erweiterung des Therapieangebots verstanden werden. Es geht nicht um ein Gegeneinander, sondern ein Miteinander. Das erfordert von allen Akteuren wissenschaftliche Offenheit, gegenseitigen Respekt und Lernbereitschaft. Es muss uns um die bestmögliche Unterstützung von Heilung und körperlich-geistigen Wohlbefinden einer jeden Patientin, eines jeden Patienten gehen.
Dafür ist es erforderlich, die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten: Angefangen bei der Forschung, über die Ausbildung von Fachgruppen, bis hin zur Finanzierung. Wir sind in Deutschland in der glücklichen Lage, dass der Methodenpluralismus in der Medizin erwünscht ist und gefördert wird. Das ist auch weiterhin wichtig!

Was möchten Sie als Sprecher der Initiative “Gesunde Vielfalt” bewegen, was sehen Sie als Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Wir richten uns mit der Initiative an Akteure und Entscheider im Gesundheitswesen und der Gesundheitspolitik. Diese interessieren sich für Lösungsansätze, die dazu beitragen, dass Medizin, Gesundheitspolitik und die Gesetzgebung dem Wohl der Patienten besser dienen können. Wir möchten die kritische Auseinandersetzung und den Diskurs in Gang bringen. Dabei geht es uns darum, konstruktiv und offen nach Verbesserungspotenzialen zu suchen und Bestehendes, das gut ist, zu bewahren.

Inhaltlich bin ich davon überzeugt, dass erst die Integrative Medizin im Therapiealltag den Unterscheid macht, dass sie uns voranbringt und gesünder macht.

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