Interview mit Dr. Jutta von Campenhausen zu Shared Decision Making

© Dr. Jutta von Campenhausen

Patienten auf Augenhöhe: Nur durch gute Kommunikation entsteht Vertrauen

Ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis trägt zu einer schnelleren Genesung bei. Der Dialog auf Augenhöhe zwischen Arzt und Patient steigert die Bereitschaft der Betroffenen, sich der Therapie und ihren Unwägbarkeiten zu stellen. Sogenannte Shared Decision Modelle (umgangssprachlich in etwa als „Modell der geteilten Entscheidung“ übersetzt) zeigen, wie Arzt-Patienten-Kommunikation gelingen kann. Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel setzt “ Shared Decision Making“, gefördert durch einen Innovationsfond, schon im Klinikalltag um. Auch in der hausärztlichen Versorgung in Bremen wird es seit 2019 angewandt. Wie Ärzte und Patienten gemeinsam zu besseren Ergebnissen kommen und so das Gesundheitssystem entlasten, erklärt die Wissenschaftlerin Dr. Jutta von Campenhausen im Interview.

Warum sollten Patienten in Therapieentscheidungen mit einbezogen werden?


Früher sagte ausschließlich der Arzt, was getan werden muss. Mittlerweile ist klar, dass eine Therapie nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Patienten dahinterstehen. Das kennt jeder von sich selbst: Wenn ich nicht weiß, was ein Medikament mit mir macht und ich nicht einsehe, warum es nötig ist, nehme ich es nicht oder nicht gern. Für das Mitmachen der Patienten, also die Compliance, ist es unerlässlich, dass die Therapieentscheidung vom Patienten mitgetragen wird. Ärzte brauchen hierfür gar nicht mehr Zeit, sondern es geht darum, die Patienten als gleichberechtigt zu betrachten und sie im Rahmen dieser Haltung an die Hand zu nehmen.

Wo ist das gemeinsame Entscheiden besonders wichtig?


Die häufigste Folge schlechter ärztlicher Kommunikation ist Non-Compliance. Ein Beispiel: In der Dermatologie gelten Okklusionsverbände als Goldstandard. Doch wenn ein Patient z. B. als alleinstehender Handlungsreisender keine Gelegenheit und keine Hilfe hat, sich täglich für eine Stunde in Frischhaltefolie zu wickeln, bringt eine solche Verordnung nichts. Nur im Gespräch lässt sich herausfinden, welche Therapie machbar, aussichtsreich und gewünscht ist.

Wie sieht ein gutes Entscheidungsgespräch aus?


Patient und Arzt oder Therapeut lassen sich ausreden und stellen offene Fragen. Und weil es ein Wissensgefälle gibt, muss der Arzt dafür sorgen, dass der Patient die Informationen bekommt und versteht, die er für eine gute Entscheidung braucht. Dafür sollte man verständlich erklären, was die Diagnose, die Prognose und Behandlung bedeutet. Ärzte sollten dazu auch die Ansichten der Patienten über ihre Gesundheit respektieren – und auch deren diesbezügliche Entscheidungen.

Wie verhält es sich damit in der heutigen Medizinlandschaft?


Es ist heutzutage in der Regel Konsens, dass Patienten mitentscheiden dürfen. Manche Mediziner schießen allerdings übers Ziel hinaus und lassen Patienten mit schwierigen Entscheidungen allein – aus falsch verstandener Zurückhaltung oder Überforderung. Für mein Buch habe ich in Patientenforen recherchiert. Da gab es viele bittere Stimmen, die sich beklagten, dass der Arzt nur Informationen über sie gekippt hat und sie allein entscheiden mussten. Im schlimmsten Fall über die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen richten zu müssen, ist schrecklich. Viele Ärzte legen Wert darauf, dass die Angehörigen entscheiden. Das ist insofern richtig als sie die Entscheidung billigen und tragen müssen. Aber es ist nicht zumutbar, dass sie über Maßnahmen allein entscheiden müssen, die den Tod eines Angehörigen nach sich ziehen werden oder können. In einer solchen Situation kann ein Arzt sagen: „Wir wissen jetzt, dass wir X verloren haben und dass wir ihn gehen lassen müssen. Ich an Ihrer Stelle würde die Beatmung einstellen lassen. Sind Sie damit einverstanden?“

Wie kann man Patienten motivieren, mitzuentscheiden? Was bedeutet „Shared Decision Making” in der Realität?


Die erste Aufgabe von Ärzten ist es herauszufinden, was der Patient weiß und was er braucht. Es gibt nach wie vor Menschen, denen es lieber ist, wenn Mediziner entscheiden. Und wenn jemand mit akuten Schlaganfallsymptomen in die Notaufnahme kommt, dann wird nicht diskutiert. Schwieriger wird es, wenn die nächsten Schritte nicht sicher sind. Beispiel: Ein übergewichtiger Patient mit schlechten Blutwerten. Ob eine Lebensstiländerung realistisch oder Medikamente wirksamer sind, hängt von seiner Einstellung dazu ab. Beides oder eine Kombination davon kann wirken. Beispiel zwei: Eine Brustkrebspatientin. Ob man brusterhaltend operiert oder nicht, kann man nur entscheiden, wenn man Chancen, Gefahren und Wertungen abwägt. Das geht nur gemeinsam.

Reicht für die individuelle Therapie ein behandelnder Arzt? Oder gelingt es besser im Team, etwa unter Einbindung von weiteren Therapeuten oder Pflegekräften?


Für die individuelle Therapie reicht in den meisten Fällen erstmal ein Arzt. Bei manchen Krebsbehandlungen setzen sich Mediziner verschiedener Disziplinen an einen Tisch und überlegen gemeinsam. In so einem Kontext kann auch der Hausarzt eine wichtige Rolle spielen. Denn er kennt die Vorgeschichte genau und weiß etwa auch über Unverträglichkeiten oder Ähnliches Bescheid. Beim „Shared Decision Making“ geht es aber vor allem darum, dass sich der Patient auf Augenhöhe befindet, dass seine Werte und seine Meinung Gewicht haben und er von Anfang an mitgenommen und einbezogen wird.

Wie sollen denn Patienten komplexe medizinische Sachverhalte verstehen?


Das Vermitteln ist die große Kunst. Es kommt nicht darauf an, möglichst detailliert zu erklären. Wenn ein Arzt ein Medikament verschreibt, muss er nicht erklären, was auf molekularer Ebene passiert. Es wäre ein hoher Anspruch, dass jeder Patient alles verstehen muss. Bringe ich mein Auto in die Werkstatt, will ich auch nicht wissen, wie die Technik genau funktioniert. Ich will nur verstehen, was kaputt ist und aus welchem Grund was gemacht wurde. Das ist letztendlich eine Vertrauensfrage.

Welche Rolle spielen die weiteren Berufsgruppen im medizinischen Umfeld?

Heilpraktiker und Psychologen sind oft sehr gute Kommunikatoren. Sie nehmen sich viel Zeit für ihre Patienten, sie sind oft sehr gut darin, eine vertrauensvolle Gesprächsebene herzustellen. Auch Pflegekräfte, die viel mehr Zeit in einer gelösteren Atmosphäre mit den Menschen verbringen und nicht zwangsläufig Fachchinesisch sprechen müssen, sind hier gute Gesprächspartner. In Situationen, in denen sie einen Verband wechseln oder das Bett machen, wird viel erklärt. Manche Ärzte können sich von diesen Berufsgruppen eine Scheibe abschneiden, was gute Kommunikation angeht.

Welche Vorteile bietet „Shared Decision Making“ dem Gesundheitssystem?


Zahlreiche: Es gibt Studien, die zeigen, dass Ärzte, die entsprechende Schulungen durchlaufen haben und gute Kommunikatoren sind, schneller auf den Punkt kommen. Die Tatsache, dass ein Mediziner gut kommuniziert, muss nicht heißen, dass es lange dauert. Man muss nur wissen, wie, und was der Patient braucht. Zum Beispiel durch Fragen wie „wie fühlen Sie sich damit“, „wissen Sie, was Sie brauchen“, „kennen Sie die Alternativen“? Wir wissen, wenn Patienten verstehen und annehmen, was gemacht wird, dann ist die Compliance hoch.
In der Realität werden zum Beispiel viele Medikamente verordnet, aber nicht genommen, weil die Patienten sich damit nicht wohl fühlen. Die Bertelsmann-Stiftung schätzt den Folgeschaden durch Non-Compliance insgesamt auf 20 Milliarden Euro im Jahr. In Deutschland sind Schätzungen zufolge 40 Millionen Menschen non-compliant, und 40.00 sterben jedes Jahr an den Folgen. Höchstwahrscheinlich könnten Ärztinnen und Ärzte enorme Kosten sparen und viele Menschenleben retten, wenn sie die Therapieoptionen besser vermitteln und die Patienten besser an die Hand nehmen.

Zur Person:

Dr. Jutta von Campenhausen ist Biologin und Anthropologin. Sie besuchte die renommierte Henri-Nannen-Schule und arbeitete als Wissenschaftsjournalistin. 2016 promovierte sie am Hamburger Universitätsklinikum, arbeitete am dortigen Institut für Geschichte und Ethik der Medizin bis 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und ist als Dozentin für Wissenschaftsjournalismus tätig. Als Content Scientist entwickelt sie Digitale Gesundheitsanwendungen (DIGAs) mit. Jutta von Campenhausen veröffentlichte als Buchautorin u.a. „Wissenschaft vermitteln“ und „Ärztliche Kommunikation für Medizinstudierende“.

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