Die (R)evolution der Medizin

© Canadian Medical Hall of Fame

DAVID LAWRENCE SACKETT war der Pionier der Evidenzbasierten Medizin. Er revolutionierte die Medizinforschung und trug dazu bei, die Patientenversorgung weltweit zu verbessern. Dabei ging es ihm keineswegs nur um Studien. Sondern vor allem um eines: die Patienten.

Als ich 1959 kurz davor war, mein Medizinstudium abzuschließen, wurde mir die Betreuung für einen Teenager übertragen, der mit Hepatitis in eine Krankenstation eingeliefert worden war. Nach einigen Tagen strenger Bettruhe – der Standardbehandlung dieser Krankheit – kehrten seine Lebensgeister und seine Energie zurück, und er bat mich, ihn aufstehen und herumlaufen zu lassen.“ So beschreibt David Sackett das Ereignis, das letztlich seiner Laufbahn die entscheidende Wende gegeben hat. Denn der Fall ließ ihm keine Ruhe. Die Lehrmeinung war klar: Der Patient sollte weiter Bettruhe halten. Doch der junge Mediziner recherchierte und fand eine hochwertige Studie, die zeigte, „dass es keine stichhaltigen Beweise gab, die es rechtfertigten, Hepatitis-Patienten zu verpflichten, im Bett zu bleiben, wenn es ihnen gut ging“. Damit überzeugte Sackett seine Vorgesetzten, den jungen Patienten von der Bettruhe zu befreien. Sackett schrieb rückblickend: „Dieser Bericht über eine (faktorielle) randomisierte Studie, die die Gültigkeit von zwei Standardbehandlungen für Hepatitis – Bettruhe und fettarme Ernährung – infrage stellte, trug dazu bei, meine Karriere zu verändern.“

© Canadian Medical Hall of Fame

DAVID LAWRENCE SACKETT

Der kanadische Arzt und Wissenschaftler David Lawrence Sackett prägte das Konzept der Evidenzbasierten Medizin, das heute weltweit als Standard in der Medizin gilt

Es war eine einzigartige Karriere: Im Jahr 1967 gründete er im Alter von 32 Jahren das weltweit erste Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMaster University in Kanada. Von 1994 bis 1999 war Sackett Gründungsdirektor des Centre for Evidence-Based Medicine am National Health Service der Universität Oxford. Im Jahr 2000 wurde Sackett in die Canadian Medical Hall of Fame aufgenommen, 2009 erhielt er den renommierten Gairdner Award. Er veröffentlichte ein Dutzend Lehrbücher und Hunderte von Fachartikeln. Und: Er engagierte sich zeitlebens intensiv dafür, Medizinstudenten die Bedeutung von wissenschaftlicher Evidenz, kritischem Denken und Patientenorientierung zu vermitteln. Sein wichtigster Beitrag für die Medizin war die Entwicklung der Grundlagen der Evidenzbasierten Medizin (EbM). Dieses Konzept fand ab den frühen 1990er- Jahren internationale Anerkennung und Verbreitung.

Heute konzentriert sich die Diskussion um Evidenzbasierte Medizin im Wesentlichen auf das Vorhandensein von Studien, die Forschungsergebnisse untermauern. Diese externe Evidenz war für Sackett wegen ihrer Objektivität eine wichtige Säule der Urteilsfindung. Doch auch valide Daten, gewonnen aus großen doppelblinden Studien, können bei blinder Anwendung auf individuelle Patienten nicht aussagekräftig und eindimensional sein. Sackett sprach gar von der Gefahr einer „Tyrannei“ der ­externen Evidenz (1) − er verwahrte sich gegen eine rein leitlinienbasierte Medizin.
Stattdessen betonte er, dass auch die klinische Praxiserfahrung sowie die ­individuellen Präferenzen und Erwartungen der Patienten eine wichtige ­Evidenzrolle zu spielen hätten: Erst der Dreiklang aller dieser Aspekte, so ­Sackett, führe zur bestmöglichen Beurteilung der Sachlage. Und so zur bestmöglichen medizinischen Versorgung der Patienten.


“Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung”

Spannend und in gewisser Weise auch revolutionär: Sackett räumte der Selbstbestimmung des Patienten einen sehr hohen Stellenwert ein. Und das aus gutem Grund: Auch die heutige Forschung zeigt, dass Behandlungs­ergebnisse besser sind, wenn Patienten Einfluss auf die gewählte Interven­tion haben. Auch eine gute Patient-­Behandler-Kommunikation spielt eine wichtige Rolle (2). Die Werte und Wünsche des Patienten einzubeziehen, ­bedeutet auch, seine Präferenzen für Therapien zu respektieren. Übersetzt in die Neuzeit heißt das: Wenn ein ­Patient Interesse an einer bestimmten Behandlung aus der Naturmedizin hat, ist es sinnvoll, diese Option in Erwägung zu ziehen. Die Wünsche des ­Patienten, die Erfahrung des Mediziners und die externe Evidenz aus ­Studien manifestieren Sackett zufolge das Gesamtbehandlungskonzept. Und gewährleisten so die bestmögliche Versorgung des Patienten.
Diese immer im Blick, war Sackett stets kritisch gegenüber vermeintlich unantastbarer Autorität und „Expertentum“. Er forderte, dass Forscher und Mediziner ihr kritisches Denken schulen sollten, um Verzerrungen (Bias) zu vermeiden (1). Wissenschaft sollte für fortschreitendes Wissen stehen. Sackett sagte dazu: „Die Hälfte dessen, was Du an der medizinischen Fakultät lernst, wird sich innerhalb von fünf Jahren nach Deinem Abschluss entweder als völlig falsch oder als veraltet erweisen; das Problem ist, dass Dir niemand sagen kann, welche Hälfte.“ Er legte deshalb größten Wert auf lebenslanges Lernen, wiederholte – nach jahrzehntelanger klinischer Praxis – seine ärztliche Ausbildung (3).
Dass sich die moderne Medizin stark auf externe Evidenz in Form von soliden Studienergebnissen stützt, ist eine wertvolle Errungenschaft – nicht zuletzt dank Sacketts Lebenswerk. Doch die Bewertung, was „best evidence“ tatsächlich ist, ist immer vorläufig, da sich der Stand der Forschung weiterentwickelt. Auch wie dieses Wissen auf einzelne Patienten angewendet werden kann, ist eine Frage, auf die es keine starre Antwort geben kann: Denn vor dem Arzt stehen Individuen, keine ­genormten Roboter.
Sacketts Verdienst ist genau das: Den Menschen und seine individuellen ­Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Seine Sichtweise macht einmal mehr deutlich, dass Medizin eine ­Human- und Erfahrungswissenschaft ist. Sie findet nicht im Labor, sondern inmitten der Komplexität des Lebens statt. In diesem Kontext ist eine gesunde Balance aus unabhängig validiertem Faktenwissen, erlerntem Anwendungswissen, kritischer Selbstreflexion und menschlichem Fingerspitzengefühl erforderlich. Forschungsgestützte Inte­grative Medizin bietet hierbei mit ­ihrer Patientenzentrierung, Vernetzung der medizinischen Instanzen und Einbindung der Patienten sowie den vielfältigen Therapieoptionen einen Ansatz, der die moderne, Evidenzbasierte ­Medizin bereichert. David Sackett selbst war im Hinblick auf Forschung überzeugter Verfechter der Methodenvielfalt. Und zur Zukunft der Evidenzbasierten Medizin schrieb er im Jahr 1997 vorausschauend: „Die Evolution der EbM wird noch fortschreiten“ (4).

Quellen:
(1) Sackett D. Why did I become a clinician-trialist? Journal of the Royal Society of Medicine 2015; 108(8): 325–330. doi: 10.1177/0141076815596690
(2) https://www.uniklinik-freiburg.de/imbi/severa/pabeko.html
(3) https://www.bmj.com/bmj/section-pdf/896890?path=/bmj/350/8009/Obituaries.full.pdf
(4) „Was ist Evidenz-basierte Medizin und was nicht?“. D.L.Sackett et al. [MMW Originalia Editorial Münch. med. Wschr. 1997; 139(44: 644–645)]

Die drei Säulen der Evidenz­basierten Medizin
nach David Sackett (1)

„BESTE VERFÜGBARE EXTERNE EVIDENZ“
Externe Evidenz umfasst klinisch relevante Forschung, darunter ­Grundlagenforschung und Studien zur Genauigkeit von Diagnose­verfahren oder zur Wirksamkeit und Sicherheit von Behandlungs­maßnahmen. Externe klinische ­Evidenz ermöglicht die Überprüfung und Aktualisierung bisher akzeptierter diagnostischer Tests und therapeutischer Verfahren, indem sie wirksamere, genauere, effektivere und sicherere Optionen identifiziert.

„INDIVIDUELLE KLINISCHE EXPERTISE“
Ärzte erwerben durch Erfahrung und klinische Praxis individuelle klinische Expertise. Diese Expertise zeigt sich in treffsicheren Diagnosen und einer ganzheitlichen Berücksichtigung der Situation der Patienten bei der Entscheidungsfindung. Die Erfahrung des Behandlers spielt daher eine wichtige Rolle in der klinischen Entscheidungsfindung.

„PATIENTENWÜNSCHE UND -WERTE“
In der Medizin ist es unerlässlich, die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen der Patienten zu berücksichtigen. Erst wenn die Patientenperspektive in die Entscheidungsfindung einbezogen wird, entsteht eine patientenzentrierte Versorgung, die eine optimale, auf den individuellen Patienten zugeschnittene Behandlung gewährleistet.

Zurück zur Übersicht