Real World Evidenz: Klinische Forschung 2.0 – näher dran am Patienten

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Grundlage für die Zulassung eines Wirkstoffes ist neben dem Beleg der pharmazeutischen Qualität der muss anhand randomisierter placebokontrollierter klinischer Studien (RCTs) erbracht werden. Das Design solcher Studien ist darauf ausgerichtet, den Effekt einer therapeutischen Intervention im Vergleich zu Placebo – unter Ausschaltung aller möglichen anderer Einfluss­ Problem dieses Wirksamkeitsbeleges: RCTs sind häufig weit entfernt von der Behandlungsrealität. Mit den datenbasierten Untersuchungsmethoden von Real World Evidence (RWE) gelingt es heute sehr viel konkreter, die Patientenrealität zu erfassen.

Sie zeigen die Wirk- oder Unwirksamkeit eines Arzneimittels bei „echten“ Patienten. Sie unterstützen die Therapieentscheidung von Ärzten. Sie ergänzen die Ergebnisse aus klinischen Studien – es gibt viele gute Gründe, die für den Einsatz von Real World Data (RWD) und der daraus resultierenden Real World Evidence (RWE) sprechen. Einer, der sein berufliches Leben passioniert der Welt aus Patientendaten widmet, ist Prof. Dr. Karel Kostev. Er leitet die Arbeitsgruppe „Epidemiologie“ innerhalb der Abteilung „Real World Evidence“ bei IQVIA, einem global agierenden Technologie- und Analyseanbieter. Acht Mitarbeiter unterstützen ihn in der Deutschland-Zentrale in Frankfurt bei seiner Analyse- und Auswertungsarbeit. Dass die intensive Beforschung von Daten alles andere als langweilig ist, zeigen die Ergebnisse, die er im Rahmen von diversen Kohortenstudien erhoben hat. Vor allem die Ergebnisse am Beispiel von Phytopharmaka können sich sehen lassen – sie bestätigen nicht nur die überzeugenden Daten aus zahlreichen vorhergehenden klinischen Studien. Sie richten den Fokus auch auf weitere Präparatenutzen von gesamtgesellschaftlichem Wert. Vier Beispiele.

1. Zu hohe Antibiotika-Verordnung bei akuten Atemwegsinfektionen (1)

Wie häufig verordnen Hausärzte, Pädiater und HNO-Ärzte Antibiotika, Phytopharmaka und synthetische Erkältungspräparate bei Erkältungskrankheiten? Besteht ein Zusammenhang zwischen der Verordnung von Phytopharmaka und reduziertem Antibiotika-Verbrauch im weiteren Krankheitsverlauf? Unterscheidet sich die Dauer der Krankschreibung bei Patienten mit und ohne Phytopharmaka-Therapie? Diese Fragen stellten sich die Forscher im Rahmen einer Kohortenstudie. Mehr als zwei Drittel der Studienpatienten (67 Prozent) wurden von Hausärzten behandelt, und nur 5,5 Prozent der Patienten von HNO-Ärzten. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Ein großer Teil der Patienten erhält Antibiotika bei einer vermutlich viralen Infektion. Die Studie deckt zudem eine massive Fehlversorgung von Patienten mit akuten Atemwegsinfektionen auf. Insbesondere bei Hausärzten werden Antibiotika wesentlich häufiger verordnet als in aktuellen Leitlinien empfohlen. Dagegen zeigt sich: Phytopharmaka können den Bedarf für eine Antibiotika-Verordnung im weiteren Krankheitsverlauf signifikant senken, sie werden aber bisher nur bei etwas über zehn Prozent der ­Patienten verordnet. Die gute Studiennachricht zum Schluss: Phytotherapeutika-Verordnungen sind mit reduzierter Antibiotika-Verordnung und mit kürzerer Krankschreibungsdauer verbunden. Trotz einiger Studienlimitationen steht also fest, dass Phytopharmaka den Verlauf einer Atemwegsinfektion begünstigen können.

2. Wirksamkeit von Phytopharmaka bei Demenz (2)

Bis zu ein Drittel der Patienten, die unter leichten kognitiven Störungen (MCI) leiden, entwickelt Demenz. MCI ist schlecht diagnostiziert, es ist davon auszugehen, dass weniger als zehn Prozent der MCI-Patienten rechtzeitig oder überhaupt eine entsprechende Diagnose erhalten. In der Studie wurden Patienten retrospektiv über einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren betrachtet (Januar 2000 bis Dezember 2019). Im Rahmen der Studie sollte der Zusammenhang zwischen der Verschreibung von Ginkgo biloba und dem Auftreten von Demenz untersucht werden. Von den untersuchten Extrakten waren 97 Prozent monografiekonforme, zugelassene Arzneimittel. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Inzidenz von Demenz war bei Patienten mit mindestens drei Ginkgo-biloba-Verschreibungen signifikant reduziert. Sie sank noch weiter, wenn das Präparat mehr als drei oder mehr als viermal verschrieben wurde. Die vorliegende
Studie macht deutlich, dass Forschung wie diese einen sehr langen Beobachtungszeitraum, viele Patienten und eine möglichst genaue Dokumentation von MCI benötigt.

3. Positive Behandlungseffekte von Pflanzenextrakten bei Harnwegsinfekten (3)

Ein Phytopharmakon mit den Bestandteilen Rosmarin, Tausendgüldenkraut und Liebstöckel, das sich sowohl für die unterstützende Behandlung der akuten als auch der wiederkehrenden Blasenentzündung eignet, kam bei dieser Studie zum Einsatz. Bei der Studie ging es darum, zu untersuchen, ob die ärztliche Empfehlung des Phytopharmakons kurz nach der Diagnose einer Harnwegsinfektion negativ mit den folgenden Ergebnissen assoziiert ist: Wiederauftreten der Entzündung, Chronifizierung der Infektionen, weniger Krankschreibungen oder kürzere Arbeitsunfähigkeiten, weniger Antibiotika-Verschreibungen und selteneres Auftreten von Nierenkomplikationen (Pyelonephritis, Niereninsuffizienz). Bei drei der fünf Zielparameter schloss das Phytopharmakon besser ab: So war es mit einem um circa 52 Prozent geringeren Risiko einer erneuten bestätigten Harnwegsentzündung assoziiert. Auch war es mit einem um circa 64 Prozent geringeren Risiko einer Harnwegs-Chronifizierung verbunden. Last, but not least ergab die Studie ein um 75 Prozent geringeres Risiko, erneut Antibiotika verschrieben zu bekommen – auch noch bis zu 365 Tage nach der Gabe des Phytopharmakons.

4. Schlafstörungen: weniger Arztbesuche unter Behandlung mit Arzneilavendelöl (4)

Ziel dieser Studie war es, den Zusammenhang zwischen der Verschreibung eines speziellen Arzneilavendelöls und der Häufigkeit von Wiederholungskonsultationen beim Hausarzt wegen Schlafstörungen im Vergleich zu Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten zu analysieren. Die retrospektive Kohortenstudie basierte auf Daten aus der Datenbank des „IQVIA Disease Analyzer“ (DA). Die Studie schloss erwachsene Patienten von 1.284 Hausärzten in Deutschland mit einer dokumentierten Schlafstörung ein, die ihre erste Verschreibung erhalten hatten. Ausgewertet wurden die Daten von 95.320 Patienten (Arzneilavendelöl: 5.204; Z-Drug: 90.526), die innerhalb von 15– 365 Tagen nach der ersten Verschreibung erneut ärztlichen Rat wegen Schlafstörungen in Anspruch genommen hatten. Insgesamt hatten 15,6 Prozent der Arzneilavendelöl-Patienten und 28,6 Prozent der Z-Drug-Patienten einen weiteren dokumentierten Arztbesuch wegen einer Schlafstörung. Die Verschreibung des Arzneilavendelöls war mit einer signifikant geringeren Wahrscheinlichkeit verbunden, dass in den 15–365 Tagen nach dem Indexdatum erneut eine Schlafstörung diagnostiziert wurde. Die Studie zeigt, dass die Verschreibung von Arzneilavendelöl bei Patienten, die ihren Hausarzt wegen Schlafstörungen aufsuchen, zu weniger häufigen Wiederholungskonsultationen führt als Z-Medikamente.

Quellen:
(1) Martin D, Konrad M, Adarkwah CC, Kostev K. Reduced antibiotic use after initial treatment of acute respiratory infections with phytopharmaceuticals – a retrospective cohort study. Postgraduate Medicine 2020; 132(5): 412–418
(2) Bohlken J, Peters O, Kostev K. Association between Ginkgo Biloba extract prescriptions and dementia incidence in outpatients with mild cognitive impairment in Germany: A retrospective cohort study. Journal of Alzheimer’s Disease 2022; 86(2): 703–709
(3) Höller M, Steindl H, Abramov-Sommariva D, Wagenlehner F, Naber KG, Kostev K. Treatment of urinary tract infections with Canephron® in Germany: A retrospective database analysis. Antibiotics (Basel) 2021; 10(6): 685
(4) Krüger T et al. Prescription of Silexan® is associated with less frequent general practitioner repeat consultations due to disturbed sleep compared to benzodiazepine receptor agonists: A retrospective database analysis. Healthcare 2023; 11(1): 77

Prof. Kostev hat Soziologie und Statistik studiert sowie in Medizin (Dr. rer. med.) promoviert und habilitiert. Er lehrt epidemiologische Fächer am Universitätsklinikum in Marburg. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Versorgungsforschung im Bereich der chronischen Erkrankungen. Prof. Kostev ist Autor und Co-Autor von mehr als 600 wissenschaftlichen Artikeln.

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PROF. DR. KAREL KOSTEV

Senior Scientific Principal und Leiter des Epidemiologie-Teams bei IQVIA in Frankfurt

So entsteht Real World Data

Versorgungsforschung hat bei dem realen Einsatz von Medikamenten am Patienten naturgemäß eine hohe Aussagekraft. Das gilt auch für Phytopharmaka. Die Zahlen sprechen für sich: Zwischen 2019 und 2021 haben etwas mehr als eine Million Patienten in circa 3.000 Praxen mindestens eine Phytopharmaka-Verordnung erhalten. Gerade diesen Bereich mit Real World Data zu untersuchen, ist also hochrelevant. Doch wie funktionieren Datenerhebung und -auswertung?

Um die Effektivität von Phytopharmaka im klinischen Alltag untersuchen zu können, benötigen Forscher Datenbanken, die sowohl Angaben zu Verordnungen als auch zu unterschiedlichen anderen Therapien und vor allem Diagnosen enthalten. Kassendaten können dabei genau so wenig verwendet werden wie reine Apothekendaten, da hier entweder die Präparate der Phytopharmaka oder entsprechende Diagnosen fehlen.

In Sachen Real World Data existieren diverse Werkzeuge, die Patientendaten analysieren können. Eines dieser Tools wird von IQVIA, einem globalen Anbieter von zukunftsweisender Analytik und klinischer Auftragsforschung, betrieben. IQVIA greift mit seinem „Disease Analyzer“ auf ein Arztpanel aus repräsentativen Fachgruppen in Deutschland zurück, das rund 3.500 Ärzte enthält.

Erhoben werden patientenbezogene Daten aus dem Arzt-Informations-System niedergelassener Ärzte. Ebenfalls einbezogen werden GKV-, PKV- und grüne Rezepte. Facharztgruppen werden separat ausgewiesen. Der „Disease Analyzer“ erlaubt eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten innerhalb einer Praxis. Die Krankheits- und Therapieverläufe sind über längere Zeiträume darstellbar. Anonymisierte Patientenakten bieten eine detaillierte, chronologische Darstellung des Behandlungsverlaufs. Datenschutz hat oberste Priorität. Die Daten werden verschlüsselt und anonymisiert zur Verfügung gestellt. Sie sind repräsentativ für Deutschland. Die Erhebungsmethode ist besonders für Naturmedizin wie die Phytotherapie und damit die Integrative Medizin geeignet: Denn Therapien und Präparate werden seitens der Patienten in deren Alltag, teilweise in Selbstmedikation, angewendet.

Real World Data ermöglichen den Blick in diesen Alltag, vor allem in die Art und Weise, wie Menschen Naturmedizin nutzen und welche Behandlungseffekte sie dadurch erfahren. Hier Klarheit zu schaffen, ist wichtig: Real World Data zeigen die Behandlungsbreite und untermauern so die Bedeutung der Naturmedizin für die Integrative Medizin. Sie sorgen für Evidenz!

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