Mind-Body-Medizin: Leitliniengerecht und transdisziplinär

© Stephanie Wolff Dr. Anna Paul Porträt

Interview mit Dr. Anna Paul, Leiterin des Bereichs Ordnungstherapie und Mind-Body-Medizin an den KEM | Evang. Kliniken Essen-Mitte

Dr. Anna Paul ist Pionierin der Mind-Body-Medizin in Deutschland: Durch diese Form der Lebensstilmedizin wird das Zusammenspiel zwischen Geist, Psyche, Körper und Verhalten verbessert. Dabei kommen Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken oder Meditation, achtsames Selbstmitgefühl sowie gesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten zum Einsatz. Die Mind-Body-Medizin zielt darauf ab, dass emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Faktoren positiven Einfluss auf die Gesundheit nehmen können.

Warum engagieren Sie sich in Deutschland als Vorreiterin für Mind-Body-Medizin?

Ich setze mich für die Befähigung des Patienten ein, aktiv an seinem Behandlungsprozess teilzunehmen und diesen mitzugestalten. Dies umfasst das Konzept der Selbstwirksamkeit. Obgleich dieser Begriff mittlerweile etabliert ist, war er zu meiner Ausbildungszeit nur in den USA bekannt. Gleiches galt für Konzepte wie Resilienz und Salutogenese. Diese Grundmodelle haben mich derart überzeugt, dass ich unbedingt mit diesen arbeiten wollte. Es geht darum, den Fokus auf den Patienten zu legen und ihm zu ermöglichen, seine eigenen Ressourcen im Sinne der Mind-Body-Medizin zu entwickeln. An den Evang. Kliniken Essen-Mitte, in den Kliniken für Naturheilkunde und Integrative Medizin und Integrative Onkologie, setzen wir diese als eine moderne Form der Ordnungstherapie ein. Dazu gehört es, den Patienten einen ausgewogenen Lebensstil (ausreichend Bewegung, gesundes Essen und Stressbewältigung) nahezubringen, Methoden der Naturmedizin wie Kneipp anzuwenden, aber auch psychosoziale und emotionale Regulation durch Achtsamkeits- und Selbstmitgefühlstraining zu stärken. Denn positive Gedanken und Gefühle sind gesundheitsfördernd, weil zwischen Psyche, Körper und Verhalten eine enge Verbindung besteht.

Wie erklären Sie sich, dass Deutschland vergleichsweise unterentwickelt ist, was die Stärkung der Selbstwirksamkeit von Patienten mithilfe komplementärer Verfahren betrifft?

Dies hängt eng mit der Industrialisierung und Technisierung zusammen: Die Medizingeschichte zeigt: Je stärker eine Gesellschaft entwickelt und von der Natur entfremdet ist, desto weniger wird auf Naturmedizin zurückgegriffen. Die hoch technologisierte Medizin hat zweifellos dazu beigetragen, dass wir nicht mehr an Infektionen wie Wundbrand oder Blinddarmentzündungen sterben. Das hat allerdings dazu geführt, dass wir heute mehr auf Hightech-Medizin vertrauen, als auf die Physiologie des Menschen und seine Fähigkeiten, mit natürlichen Vorgängen umzugehen. Eine Geburt oder der Sterbeprozess werden heute mit weniger Vertrauen in die körpereigenen Kräfte vollzogen. Das hat zu einer Abkehr von Naturmedizin geführt. Ein weiterer Grund dafür ist, dass Naturmedizin im Medizinstudium an den Universitäten nicht ausreichend gelehrt wird. Es wäre wünschenswert, dass die evidenzbasierte Naturheilkunde sowie Mind-Body-Medizin als Lehrfach an allen medizinischen Fakultäten per se gelehrt würden, um den Studierenden ein grundlegendes Verständnis und eine Einstellung zu diesen seit Jahrhunderten bewährten Verfahren zu vermitteln.

Worin unterscheidet sich die Mind-Body-Medizin von anderen medizinischen Disziplinen?

Häufig wird die Mind-Body-Medizin mit Psychosomatik verwechselt. Letztere konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf psychopathologische Aspekte bei der Krankheitsbewältigung. Die Mind-Body-Medizin dagegen ergänzt die schulmedizinischen und psychiatrischen Ansätze. Sie konzentriert sich auf die Ressourcen der Menschen und darauf, Körper und Geist zur Selbsthilfe und Selbstwirksamkeit zu befähigen. Dadurch werden den Menschen ihre Werkzeuge und Ressourcen wieder zugänglich gemacht. Der Ansatzpunkt der Mind-Body-Medizin sind die Ressourcen, nicht die Störungen.

Wie setzen Sie die Mind-Body-Medizin am Klinikum Essen um?

Bei uns in Essen praktizieren wir Integrative Medizin, also das Miteinander von konventioneller Medizin und komplementären Verfahren. Unsere Leitlinie lautet: “So viel konventionelle Medizin wie nötig, so viel Naturmedizin wie möglich und so viel Mind-Body-Medizin, wie der Patient selbst entwickeln möchte und kann.” Dies geschieht nicht durch medizinische Anordnungen, sondern nach dem salutogenetischen Prinzip von Information, praktischen Übungen wie Achtsamkeit oder Yoga und vor allem der Moderation psychoemotionaler Prozesse, zum Beispiel durch Gruppengespräche. Auf diese Weise versetzen wir die Menschen in die Lage, auf ihre eigenen Gesundheitsressourcen zuzugreifen. Unser Mind-Body-Programm (MICOM) umfasst zehn verschiedene Gesundheitsbereiche, z.B. Achtsamkeit sowie Ernährung oder Bewegungstherapien. Wir gehen dabei transdisziplinär, multimodal, komplex und individuell auf die Patienten und ihren Lebensstil ein.

Welche Erkrankungen eignen sich für den Einsatz von Mind-Body-Medizin und ihre Kombination mit schulmedizinischen Methoden im Rahmen Integrativer Medizin?

Besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen, vor allem bei denen der Lebensstil ausschlaggebend ist, reagieren positiv auf Mind-Body-Medizin. Dabei steht die Stärkung von Gesundheitsfaktoren wie guter Schlaf oder gesunde Ernährung und Widerstandsressourcen, die Förderung von Resilienz- und Kohärenzfaktoren sowie die Reduktion von Belastungen, insbesondere von Stress, im Vordergrund. Der Erfolg von, die schulmedizinische Behandlung unterstützende, Mind-Body-Medizin zeigt sich besonders deutlich bei onkologischen Patienten, da Krebserkrankungen äußerst komplex sind und das Leben stark beeinflussen können. Hier bekommen die Patienten mit Methoden der Mind-Body-Medizin Werkzeuge an die Hand, die ihnen helfen, Stress oder Erschöpfung zu reduzieren. Auch für Schmerzpatienten, die alle schulmedizinischen Therapieoptionen ausgeschöpft haben, bietet die Mind-Body-Medizin einen praktikablen Ansatz, der zur Krankheitsbewältigung im Alltag beitragen kann.

In den USA ist Mind-Body-Therapie fest in der medizinischen Versorgung etabliert und wird intensiv beforscht. Wie sieht das in Deutschland aus?

Die Mind-Body-Medizin wird in den deutschen S3-Leitlinien für die chronische Darmerkrankung Colitis ulcerosa, Schlafstörungen und Angsterkrankungen sowie in der Integrativen Onkologie u.a. genannt. Das ist ein bedeutender Schritt, da Mind-Body-Medizin so als wichtiger komplementärer Teil der Medizin anerkannt wird. In Bezug auf Forschung, Forschungsförderung und Ausbildung hinken wir in Deutschland im Vergleich zu den USA noch hinterher. Es gibt schon Ausbildungsangebote für Medizinstudenten beispielsweise an der Charité in Berlin oder am Klinikum in Bamberg. Mit dem Lehrstuhl für Naturheilkunde an der UDE in Essen haben wir neben den Vorlesungen und Blockseminaren zu Naturheilkunde und Integrativer Medizin auch noch ein Wahlpflichtfach für Mind-Body-Medizin. So ermöglichen wir Studierenden direkten Einblick in die praktische Anwendung. Der Lehrstuhl bietet in Kooperation mit der Erich Rothenfußer Akademie in Essen seit 19 Jahren die einzige MBM-Ausbildung in Deutschland an (www.mindbodymedicine.de).

Warum ist Mind-Body-Medizin eine sinnvolle Ergänzung schulmedizinischer Methoden?

Mind-Body-Medizin ist von Natur aus ganzheitlich ausgerichtet, sie ist Bestandteil der Integrativen Medizin, etwa der integrativen Onkologie. In Essen haben wir vor ca. 15 Jahren ein Programm entwickelt, mit dem wir Patienten während der Chemotherapie in Mind-Body-Gruppen begleiten. Dieses Vorgehen wird durch solide Studien gestützt und ist auch Teil der gynäkologischen Leitlinien. Ich bin überzeugt, dass viele Patienten dies wünschen, und wenn sie es nicht kennen, dann möchten sie es kennenlernen. Ich denke, dass mindestens zwei Drittel der heutigen jungen Medizinerinnen und Mediziner gerne Mind-Body-Medizin anwenden würden. Der Nachwuchs zeigt großes Interesse, wenn er damit in Berührung kommt.

Was steht Ihrer Meinung nach noch im Weg, damit die Mind-Body-Medizin flächendeckend eingesetzt wird?

Auf politischer Ebene fehlt bisher die Anerkennung, die notwendig wäre, um die Grundlagen für eine Abrechnung durch die Krankenkassen und eine systematische Erforschung zu schaffen. Doch genau da müssen wir hin – zum Wohle der Patienten.

Zur Person:

Dr. rer. medic. Anna Paul leitet die Abteilung Ordnungstherapie und Mind-Body-Medizin an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Zusätzlich ist sie Leiterin der Fortbildungsakademie, sowie der Arbeitsgruppe Prävention und Gesundheitsförderung am Lehrstuhl für Naturheilkunde der Universität Duisburg-Essen. Dr. Anna Paul gilt als Pionierin der Mind-Body-Medizin in Deutschland und hat das Fachgebiet zusammen mit Professor Gustav Dobos systematisch aufgebaut und zahlreiche Mediziner und Therapeuten darin ausgebildet. Sie ist Herausgeberin des Fachbuch-Bestsellers “Mind-Body-Medizin” (zusammen mit Prof. Dobos) und Autorin von “Hallo Körper – Du kannst das”.

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